Contra Tafeln: Tafeln für Arme - Segen oder Fluch?

02.10.2009, Barbara Allebrodt, Sabrina Radeck

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Dortmund. Mit einem Aktionstag wollen Tafel-Einrichtungen überall in Deutschland am Samstag ein „Zeichen gegen Armut” setzen und an die soziale Vernunft der Bundesregierung appellieren. Für viele Hartz-IV-Bezieher und Menschen mit kleinen Einkommen sind die Tafeln eine Hilfe beim Lebensunterhalt.

Doch es gibt auch kritische Stimmen. In seinem Buch „Fast ganz unten” stellt der Soziologe Stefan Selke die These auf, dass die Tafeln den Kampf gegen die Armut behindern. Die Tafelmitarbeiter sehen dies naturgemäß anders.

»Durch die Tafeln ist der Druck für die Politiker geringer«

Freitagmittag, kurz vor 14 Uhr. Bei der Dortmunder Tafel ist alles vorbereitet für den Ansturm der Kunden. Henning Rose ist seit fünf Jahren als Ehrenamtlicher dabei. Damals musste er krankheitsbedingt seinen Job aufgeben und wollte doch weiterhin etwas Nützliches machen. Über das Dortmunder Ehrenamtsbüro fand er zur Tafel, eine sinnvolle Aufgabe schien ihm - und so ist es bis heute geblieben. „Wir erleichtern unseren Kunden den Alltag, ohne die Lebensmittel von der Tafel sähe es bei ihnen schlimm aus”, sagt Rose

Andreas T. (Name geändert) ist so ein Beispiel. Der Vater von sechs Kindern bezieht Hartz IV. Bevor er im letzten Jahr selber als ehrenamtlicher Helfer bei der Tafel angefangen hat, kam er als Kunde her. „Die meisten Lebensmittel könnten wir uns sonst gar nicht leisten”, sagt T. „Obst und Gemüse, Brot und Wurstwaren, das alles ist so teuer geworden. Und die Kinder freuen sich über die Süßigkeiten.”

Der Soziologe Stefan Selke hat sich ein Jahr lang intensiv mit dem Phänomen der Tafeln beschäftigt, hat selber mitgearbeitet, mit den Menschen gesprochen und dabei festgestellt, dass sich die Idee hinter der Bewegung verändert hat. „Früher war die Grundidee, Überflüssiges zu verteilen. Mittlerweile ist die unausgesprochene Leitidee ,Wir ersetzen das Fehlende'”, sagt Selke. Längst würden nicht mehr nur die Dinge verteilt, die in Supermärkten oder Gastronomiebetrieben übrig blieben, sondern es komme auch vor, dass spezielle Dinge, wie Schulranzen oder Weihnachtsbraten, gezielt gekauft würden. So aber, meint Selke, werde eine Erwartungshaltung erzeugt und die Armut verstetigt. Außerdem, so glaubt er, würde ohne Tafeln auch der Druck auf die Politik wachsen. „Durch die erfolgreiche Arbeit der Tafeln ist der Druck für die Politiker, nach Alternativen zu suchen, gering”, sagt Stefan Selke.

Fatal, wenn sich Staat zurückzieht

Ein Punkt, den jüngst auch die Caritas kritisierte. So zitierte der Tagesspiegel aus einem Caritas-Papier, in dem es heißt: „Es wäre fatal, wenn die politischerseits gern gesehene Tafelbewegung dazu beiträgt, dass sich der Staat aus der Daseinsvorsorge seiner Bürger sukzessive zurückzieht.”

Inzwischen hat die Freitags-Tafel in Dortmund ihre Tore geöffnet. Wer hier für einen symbolischen Preis von zwei Euro einkaufen darf, muss zuvor seine Bedürftigkeit nachweisen, bekommt einen Ausweis und einen Tag zugewiesen, an dem er herkommen darf. Vielen der Menschen, die heute hier in der Schlange stehen, sieht man Bedürftigkeit nicht an.

Doch was bedeutet überhaupt Bedürftigkeit? Woran kann man sie erkennen? An Kleidung? Am Bankkonto? An der Teilhabe an der Gesellschaft? „Menschen, die Hartz IV beziehen, sind oft von so vielem ausgeschlossen, sie können nicht ins Kino, nicht ins Schwimmbad, wenn dafür Geld übrig ist, weil sie Lebensmittel von der Tafel bekommen, was soll daran schlecht sein?”, sagt Sybille Klein von der Siegener Tafel.

Manchmal ist die Tendenz zu beobachten, dass die Tafeln zum Monatsende wesentlich besser besucht sind als zu Monatsbeginn, kurz nachdem es Geld gegeben hat. Und es kommt vor, dass Kunden ihre Lebensmittel direkt vor Ort noch einmal nachsortieren und Dinge wegwerfen. So etwas macht die Tafelmitarbeiter wütend. „Wenn wir jemanden dabei beobachten, bekommt er beim ersten Mal die Gelbe Karte, beim zweiten Mal wird er für einen Monat ausgeschlossen”, beschreibt Henning Rose den Umgang der Dortmunder Tafel mit solchen Fällen.

Und dennoch, für Rose ist die Tafelarbeit über jeden Zweifel erhaben. Für ihn steht fest: „Jeder Bedürftige würde einen neuen Job, eine Veränderung seiner Situation dem Gang zur Tafel vorziehen.”

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