Pro Tafeln: Die Stunde des Almosens

von Gerd Held, Privatdozent am Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung in Berlin, 19.12.2009

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Die milde Gabe und die Praxis der Tafeln gehört verteidigt: Es gibt eine Hilflosigkeit des Menschen, die durch keine staatliche Sozialleistung berührt wird.

In diesen kalten Tagen schauen viele Menschen etwas genauer hin, wenn sie einem Obdachlosen auf der Straße oder in der U-Bahn begegnen. Bei dieser Begegnung mit der Not, von Angesicht zu Angesicht, stellt sich nicht selten ein Gefühl der Demut ein: Wer weiß, was diesen Menschen aus der Bahn geworfen hat? Wären wir mit damit besser fertig geworden? In solchen Momenten erinnern sich die Menschen, dass ihr Lebensweg nicht nur selbst gemacht ist, sondern auch gegeben ist.

Leistung, Verantwortung, Selbstbestimmung – darauf ist unsere Welt mit ihrer Vielfalt und Offenheit gebaut.
Auch der Sozialstaat bewegt sich in diesem Rahmen. Doch gibt es in der Begegnung mit der Not einen Moment, wo das alles in den Hintergrund tritt und man einsehen muss, dass die selbstbestimmte Bürger-Welt auch nur ein schwankendes Schiff auf einem ungewissen Meer ist. Das ist die Stunde des Almosens.

Eine Million Notleidende

In den vergangenen Jahren sind die „Tafeln“ in Deutschland zu einer beeindruckenden sozialen Bewegung geworden. Sie sammeln Lebensmittel ein, die Hersteller, Händler oder Gastronomen aussortiert haben; diese verteilen sie kostenlos oder gegen einen symbolischen Betrag an Bedürftige. 1994 begann es mit vier Tafeln, inzwischen sind es über 800. Die Zahl der Notleidenden, die hier im Schnitt einmal pro Woche eine warme Mahlzeit essen oder Lebensmittel mit nach Hause nehmen, hat die Million erreicht. Ein Viertel davon sind Kinder und Jugendliche.

32000 ehrenamtliche Helfer tragen das Werk, das im Kern auf einer schlichten, direkten Geste beruht: der Gabe. Bei „Almosen“ ist man geneigt, an einen herablassenden Akt zu denken. Doch das gilt für die Tafeln nicht. Wer einmal eine Tafel besucht, spürt eine freundlich-praktische Geschäftigkeit ohne erhobenen Zeigefinger und Selbstbeweihräucherung. Beim Essen und Trinken ist die Augenhöhe zwischen Gebenden und Nehmenden ziemlich gleich.

Kritik an den Tafeln

Dennoch sind die Tafeln in die Kritik professioneller Sozialverbände geraten. Ein Beispiel ist das Eckpunktepapier, das der Vorstand der Deutschen Caritas vor einem Jahr beschloss und das die Tafeln als „Rückschritt“ und „im Ansatz falsch“ kritisiert. Die Ausgabe von Lebensmitteln sei nicht geeignet, „die individuellen oder auch strukturellen Ursachen von Armut zu bekämpfen“. Das ist eine erstaunliche Argumentation. Denn sie wendet höhere Ansprüche gegen die direkte Hilfe. Das hehre Ziel wird gegen die einfache Gabe ins Feld geführt. Angesichts dieser Kritik haben sich viele Tafel-Helfer, darunter viele Caritas-Mitglieder, gefragt, was sie denn anders machen sollen. Oder wo die Leute hingehen sollen, wenn man im Namen des sozialpädagogisch Höheren die Tafeln in Misskredit bringt. Ist nicht die Essensgabe allein schon eine Befähigung – so wie es der wärmende Mantel des St. Martin war? Stiftet nicht der Moment, in dem ein Brot, ein Teller Suppe oder ein Kaffee über den Ausgabetisch gereicht wird, ein soziales Verhältnis?

Sicher können die Tafeln nicht die Leistungen des Sozialstaats ersetzen. Aber es gibt eine Hilflosigkeit des Menschen, die durch keine staatliche Sozialleistung berührt wird. Hier kommt die einfache, direkte, lindernde Gabe gerade recht. Deshalb darf die Schlichtheit des Almosens, die die Tafeln auszeichnet, niemals ein Vorwurf sein. Die Gebenden freilich sollten sich nicht zu sehr ins Rampenlicht drängen, sondern sich an Jesu Mahnung halten: „Wenn du Almosen gibst, so sollst du es nicht vor den Leuten tun“ (Matthäus 6,14). In der Not spricht die Gabe für sich.

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